Lisa Rothenbühler hatte einen Traum. Einer, der sich nicht verwirklichen liess. Bis ein unerwartetes Angebot kam. Eine Metzgerfamilie aus Bern gab ihren Betrieb auf und suchte junge Nachfolger. Rothenbühler dachte: «Jetzt musst du gumpen» und wagte den Sprung – trotz Zweifeln.
Wenn Träume wahr werden – anders als geplant
Text ― Julia Spahr
Bilder ― Oli Hallberg und Priska Furrer,
Julia Baumgartner und Fabienne Tschannen
«Würden alle in lokalen Geschäften einkaufen, gäbe es weniger Probleme auf der Welt.»
Lisa Rothenbühler stand gerade im Blumengeschäft, als der Anruf kam. Inmitten von Rosensträussen, Gestecken und Lilienstängeln kramte sie ihr Telefon unter der grünen Schürze hervor. Ob sie eine alte Metzgerei in der Stadt Bern übernehmen wolle, fragte der Anrufer. Rothenbühler setzte sich auf den einzigen Hocker im Laden. Das müsse sie sich überlegen.
Die 28-Jährige ist auf dem Marlenberg in Lauperswil aufgewachsen. Auf einem Bauernbetrieb in den Hügeln des Emmentals. Noch heute lebt sie dort und steht kurz vor dem Abschluss ihrer Weiterbildung zur Meisterlandwirtin. Auf 11 Hektaren in der Bergzone II führen sie und ihre Eltern im Nebenerwerb einen Biobetrieb mit regenerativer Landwirtschaft. Sie züchten Galloway-Rinder, die sie auf dem Hof töten und deren Fleisch sie über Mischpakete direkt ab Hof vermarkten. Lisa Rothenbühler dachte immer daran, wie schön es doch wäre, einen Hofladen zu haben, die Kundschaft täglich direkt bei sich zu empfangen, den Leuten nicht nur ihre Lebensmittel zu verkaufen, sondern auch die Landwirtschaft näherzubringen, über die Herausforderungen und Möglichkeiten zu sprechen, vom Rhythmus der Natur zu erzählen. Der Traum platzte aber jedes Mal schon nach wenigen Gedanken. Rothenbühlers Hof liegt abgelegen. Da fährt nie jemand zufällig vorbei. Schon gar nicht, weil vor der Strasse, die zu ihrem Betrieb führt, ein Fahrverbot steht. Nur Zubringer dürfen dort durch. Der Laden würde nicht rentieren. Also dachte Rothenbühler nicht mehr daran. Arbeitete als Floristin und in ihrer Freizeit auf dem Landwirtschaftsbetrieb.
«Es ist kaum zu glauben, wie viele Metzgereien ihre Produkte von irgendwoher bestellen und nicht eine Wurst selbst machen.»
Dann kam der Anruf. Eine Metzgerei führen? Mitten in der Stadt? Ihre Geschäftspartner sollten der Koch Roger Melliger und der Metzger Marc Aeschlimann sein. Die jungen Leute setzen sich zusammen und besprachen ein Konzept. Es solle keine gewöhnliche Metzgerei sein, wie sie es bis dahin war. Eine klassische Metzgerei hat es heutzutage schwer in der Stadt. Sie müsste eine Kundschaft ansprechen, die ihren Fleischkonsum hinterfragt, die Wert auf Nachhaltigkeit legt. Und sie wollten nebst dem Fleisch noch andere Produkte im Sortiment haben.
Gut eine Woche hatten sie Zeit, zu entscheiden. «Jetzt müssen wir gumpen», haben wir uns gesagt, erzählt Rothenbühler heute. Die junge Frau hat ihr Haar über dem Kopf zusammengebunden, trägt einen Faserpelz und darüber eine blaue Schürze. Sie sitzt im kleinen Hinterzimmer der Metzgerei, die früher von Familie Hulliger geführt wurde und ebenso hiess. Heute trägt sie den Namen «Onkel Urs». Sie ist im Weissenbühl. Ein Quartier, das am Kommen ist, wie man sagt. Im Hinterzimmer riecht es nach Fleisch und Wurstgewürz. «Ihr spinnt doch», hätten alle gesagt.
«Wir verkaufen ä u huere Sach a Suppehüener.»
Auch Rothenbühler selbst hatte Zweifel. Ob sie ihre gute Position im Blumenladen zugunsten von viel Unsicherheit und finanziellen Fragen aufgeben sollte. Aber sie sprangen. Und fingen an. Im Januar 2021. Inmitten des Lockdowns. Was zunächst wie eine schlechte Voraussetzung tönt, stellte sich als etwas sehr Gutes für sie heraus. Die Leute mieden die grossen Supermärkte und hatten das Bedürfnis nach regionalen Produkten. Die hatte «Onkel Urs». Rothenbühler und ihre Geschäftspartner arbeiten mit wenigen Landwirten aus der Umgebung zusammen, denen sie ganze Tiere abkaufen: Die Rinder kommen von Familie Zulliger aus Madiswil, Weideschweine haben sie von David Schmutz aus Utzigen, die Poulets von verschiedenen Höfen aus der Region. Da Rothenbühlers Mitinhaber Marc Aeschlimann Metzger ist, verarbeiten sie alles selbst in ihren Räumen. Was selbstverständlich klingt, ist es nicht. «Es ist kaum zu glauben, wie viele Metzgereien ihre Produkte von irgendwoher bestellen und nicht eine Wurst selbst machen», sagt Rothenbühler. Oft sei es ein Irrglaube, in Metzgereien besseres oder anderes Fleisch zu bekommen als im Supermarkt. Bei ihnen läuft das anders. Sie verarbeiten das ganze Tier. Bei ihnen gibts nur wenige Filets, wer eins will, muss es rechtzeitig vorbestellen. Sonst gibt es weniger edle Stücke. «Wenn die Leute deshalb ungehalten sind, fragen wir sie, was wir denn mit den restlichen 250 kg eines Tiers machen sollen, wenn alle nur das Filet wollten. Das leuchtet den meisten ein.» Und da der andere Mitinhaber, Roger Mellinger, Koch ist, gibt er der Kundschaft Tipps, wie sie auch aus Geschnetzeltem ein Gericht kochen können, das mindestens so gut ist wie ein Filet. Innereien verarbeitet der Koch meist direkt und verkauft sie als Fertiggerichte. Zunge mit Kapern bietet er an, was erstaunlich gut ankomme. Die Knochen werden in Zukunft für Bouillon ausgekocht. Auch Suppenhühner, die sie von Legehennenbetrieben beziehen, liefen sehr gut. «Wir verkaufen ä u huere Sach a Suppehüener», sagt Rothenbühler. Was sie besonders freue. Ausgediente Legehennen landen noch viel zu oft in der Biogasanlage, weil sie niemand essen will, obwohl ihr Fleisch wertvoll und schmackhaft ist.
Auch das Fleisch von Rothenbühlers Galloway-Rindern findet manchmal den Weg in die Metzgerei. Aber nur selten. «Wir haben nicht so viele Tiere und eine langjährige Stammkundschaft, die wir weiterhin beliefern wollen», sagt sie. Sie bringe trotzdem viel von der Landwirtschaft in den Laden.
Ihr Wissen und vor allem die Geschichten aus ihrem Alltag. Die Kundschaft fragt nach, wenn sie nicht da ist, und staunt, wenn es heisst, sie sei am Heuen, helfe beim Kalbern oder bei der Hoftötung. Dann fragen sie beim nächsten Mal nach und bekommen Einblicke in die Landwirtschaft und ein tieferes Verständnis für Bäuerinnen und Bauern.
Mittlerweile steht Rothenbühler wieder hinter der langen Theke. Würste, Schinken, Spiessli, Koteletts, Plätzli, Cordonbleu, Speck, etc. liegen darin. Daneben ist ein kleiner Abschnitt voller Käsespezialitäten von kleineren und grösseren Käsereien aus der Gegend. Aber auch Tofu aus Frutigen und andere vegane Produkte liegen da. Im Kühlschrank daneben finden sich Joghurt und im Regal stehen Sirup, Hülsenfrüchte, Reis und Polenta – alles aus der Region. Ebenso im kleinen Gemüseregal. Da liegt nur Saisonales.
Rothenbühler ist gerade dabei, eine Kundin mit deren kleinen Tochter zu bedienen. Wie es im Kindergarten war, fragt sie die kleine, und ob das Gericht nach ihrem Rezept neulich gelungen sei.
Das sind offensichtlich Stammkunden. Solche haben sie einige, was Rothenbühler freut. «Würden alle in lokalen Geschäften einkaufen, gäbe es weniger Probleme auf der Welt», ist sie überzeugt. Und räumt ein, dass sie nicht die ganze Stadt bekehren werde, aber wenn sie pro Monat ein paar neue Kundinnen gewinnen können, sei das ein Schritt in die richtige Richtung.
Wie sie da hinter der Theke steht, umgeben von all den regionalen Produkten in Kontakt mit einer Konsumentin, so denkt man, dass ihr Traum in etwas anderer Form wahr geworden ist: ein Hofladen mitten in der Stadt.
‣ onkelurs