Zuerst wollte Julia Pfäffli nicht. Dann sah sie das familieneigene Restaurant als Chance und übernahm es. Das war vor zwölf Jahren. Bis heute kocht sie traditionelle und moderne Gerichte aus Zutaten, die praktisch vor ihrem Fenster wachsen. Freude und Ideen sind ihr bis heute nicht ausgegangen. Obwohl es auch schwere Zeiten gab.
Von der Last zur Lebensaufgabe
Text ― Julia Spahr
Bilder ― Florian Spring
«Während ihr Vater ein Bauer mit Kochkenntnissen war, ist sie Koch. Sie setzte von Anfang an auf hohe Qualität der Gerichte, suchte aber nach ihrem eigenen Stil.»
«Willst du einmal das Restaurant übernehmen?» Diese Frage hörte Julia Pfäffli oft. Sie ist die älteste von fünf Schwestern. Mit ihnen wuchs sie in Bangerten, einem abgelegenen 160-Seelen-Dorf rund 20 Kilometer von Bern entfernt, auf. Ihre Eltern bauerten. Und sie führten ein Restaurant. Die «Wirtschaft zum Löwen». Für viele Gäste lag die Frage nahe. Pfäffli ärgerte sich als Kind darüber. Sie empfand die Erwartung als Bürde. Also ging sie weg. Sie lernte beim renommierten Oskar Marti, dem Chrüter-Oski, Koch, arbeitete in St. Moritz, Genf, Schaffhausen und auf einem Donauschiff. Es waren Küchen in 5-Sterne-Hotels und Restaurants mit bis zu 19 von 20 Gault-Millau-Punkten.
Dann wurde sie Mutter. Als Alleinerziehende arbeitete sie weniger, half den Eltern in der Küche, und diese waren bereit, kürzerzutreten. Sie begann anders über das familieneigene Restaurant zu denken. Sie sah die Freiheiten, die es ihr bieten könnte, und merkte auf einmal, dass es keine Last, sondern eine Chance ist.
Also stieg sie ein. Während ihr Vater ein Bauer mit Kochkenntnissen war, ist sie Koch. Sie setzte von Anfang an auf hohe Qualität der Gerichte, suchte aber nach ihrem eigenen Stil. Von der Spitzengastronomie kommend, hatte sie zunächst das Gefühl, diese Art des Kochens auch in ihrer Wirtschaft umsetzen zu müssen. Dann merkte sie, dass das weder zum rustikalen und bäuerlichen Lokal passte noch zur Umgebung oder den Gästen. Also führte sie die Tradition ihrer Eltern weiter. Sie verfeinerte die Gerichte und ergänzte die Klassiker mit neuen Kreationen.
Das ist nun zwölf Jahre her. Noch heute zeigt sich die Tradition und das Neue, Junge, das sie brachte, bereits in der Gaststube. Da sind schlichte Tische mit rot-weiss-karierten Servietten, daneben Holzstühle. An der Wand hängen Bilder, die den «Prima Burespeck», die «Prima Burewurst» oder die «Prima Burerösti» zeigen. Da sind aber auch die Menü-Karten oder die Beschreibung des Apéros. Sie kommen in modernem, schlichten Design daher und dürften jede Hipsterin, jeden Städter sofort ansprechen.
Wie die Einrichtung wird die Wahl ihrer Zutaten vermutlich sowohl die ländliche als auch die Kundschaft aus dem nahen Bern oder Biel begeistern. Von Beginn an setzte Pfäffli auf regionale Zutaten. Kartoffeln, Eier, Rapsöl und im Frühling Spargeln hat sie vom Hof, auf dem sie aufgewachsen ist und der heute ihrer Schwester gehört. Fleisch bekommt sie von Metzgern in der Umgebung, zum Beispiel von ihrem Schwager. Gemüse verkauft ihr ein Bauer aus dem Nachbarsdorf. Wild kommt von befreundeten Jägern. Salat, Beeren und Kräuter hat sie aus dem grossen Garten, den sie mit der professionellen Unterstützung einer Gärtnerin bewirtschaftet. Oder da sind zum Beispiel die typischen Freiburger Poire à Botzi. Ihre Nachbarin, die aus eben dem Kanton stammt, hat einen Baum im Garten. Manchmal bringt sie ihr eine Kiste vorbei. Zu Fuss. «Es braucht keinen Tropfen Benzin.» Dann nimmt Pfäffli sie auf ihre Speisekarte und serviert sie zu Rösti mit Vacherin Mont-d’Or. So geht es mit manch einem Gericht. Hat ein Metzger mal Lamm, gibt es am Donnerstagabend, den sie der «ächten Schwiizer Chuchi» widmet, Emmentaler Lammvoressen. Wenn die Jäger Wildschweine geschossen haben, veranstaltet sie einen Abend mit Wildschweinburgern.
Nebst neuen Kreationen gibt es jedoch immer althergebrachte Fixpunkte auf der Speisekarte und im Jahresablauf. Da ist zum Beispiel die Metzgete, die ihr Vater immer durchgeführt hat. Er ist vor anderthalb Jahren unerwartet verstorben. Julia Pfäffli führt die Tradition nun weiter. Weil es ihrer Philosophie entspricht, ein Tier von Kopf bis Fuss zu verarbeiten und wohl etwas ihm zu Ehren. Sein Tod war ein Einschnitt. Bereits als er sie noch unterstützte, war die Arbeitsbelastung für sie sehr hoch. Als seine Hilfe und sein Wissen von einem Tag auf den anderen wegfielen, stiegen der Druck und die Bürde zusehends. Der Berg an Arbeit wurde nicht mehr kleiner. Und seit Corona findet Pfäffli kaum mehr gute, zuverlässige Leute für die Küche. Die heute 48-Jährige war kurz vor einem Burn-out und kurz davor, alles hinzuschmeissen, den Schlüssel zum Restaurant für immer zu drehen.
Schliesslich entschied sie sich dagegen. Sie passte die Öffnungszeiten an. Heute hat sie nur noch am Abend und sonntags tagsüber offen. Jetzt verspürt sie wieder Freude an der Arbeit. Sie schätzt ihre Freiheit, die Arbeit mit den hochwertigen Produkten und den Kontakt zu den Gästen. Auch Ideen hat sie immer wieder neue.
Neulich hat eine ihrer Kreationen sogar als Inspiration für ein Lied gedient. Anja und Christian Häni von der Band Halunke sind Stammgäste bei ihr. Als sie das neue Dessert «Likör auf Glace», Schokoladeneis mit Bananenlikör, probierten, schrieben sie kurzerhand einen Song mit ebendiesem Titel. Solche Beispiele zeigen, dass die Wirtschaft auf dem Land, die mit dem öffentlichen Verkehr nicht zu erreichen ist, zu Recht ein beliebtes Ausflugsziel ist und nicht zuletzt dank des Herzbluts der Köchin eine Strahlkraft weit über die Felder und Wälder in der Umgebung hat.